Josh McCown hatte sich einen ganz genauen Plan zurechtgelegt. Der Quarterback Coach der Carolina Panthers wollte beim Scouting der Quarterbacks vor dem NFL Draft 2023 nichts dem Zufall überlassen. So ging er die Suche nach dem talentiertesten Nachwuchs-Spielmacher mit einer gut organisierten Routine an.
Und fand am Ende Bryce Young.
McCown stützte sich bei seiner Suche auf eine Sammlung von Szenen aus verschiedenen Spielsituationen, die für jeden Spieler zusammengestellt wurden, um sich ein genaues Bild zu machen. Dabei ging es zum Beispiel um die Anzahl der Yards, die bei einem Down geholt werden müssen oder um den Erfolg eines Spielzugs. Manchmal ging es auch um die Zeit, die noch auf der Spieluhr übrig war. Alles, um zu sehen, wie der Spieler in jeder Situation reagiert.
Die fürs Scouting zusammengestellten Clips sind alles andere als Highlight Reels mit den besten Szenen eines Spielers. Das Filmmaterial wurde bis ins kleinste Detail aufgeschlüsselt, so dass sich McCown ein Bild zu jedem Aspekt des Quarterback-Spiels machen kann – von Third-Down-Spielzügen, von der sogenannten Two-Minute Offense kurz vor der Halbzeit oder kurz vor Schluss oder sogar von ein paar missglückten Pässen hintereinander.
Die Analyse des Videomaterials ist zwar nur ein Teil des Scouting-Prozesses, aber sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Spielerbewertung. Und kann verdammt anstrengend sein.
"Das Videomaterial ist ziemlich umfassend – mit guten, schlechten und hässlichen Szenen", sagte McCown. "Man will sich ein klares Bild davon machen, wer der Spieler wirklich ist."
Während sich McCown Stunde für Stunde Spielszenen anschaute, markierte er Schlüsselszenen und machte sich Notizen. Diese nahm er dann zu Teambesprechungen mit, um sie dort mit den anderen Coaches zu diskutieren. Danach sah er sich die Clips erneut an, um nach erkennbaren Mustern bei den Spielern zu suchen.
Bevor die Carolina Panthers Bryce Young beim Draft 2023 als Nummer-eins-Pick auswählten, hatte der Quarterback für jede Menge Gesprächsstoff gesorgt. Aber McCown schaute sich Youngs Video mit derselben Checkliste an, mit der er auch jeden anderen Quarterback beurteilt.
McCown beginnt sein Scouting nach Eigenaussage stets mit einem allgemeinen Überblick über die Wurfbewegung eines Quarterbacks, um sich über dessen "mechanische Fähigkeiten" zu vergewissern. Dabei achtet er darauf, wie schnell der Spieler Informationen verarbeitet und wie schnell er mit den Augen die Passrouten seiner Mitspieler und die gegnerischen Deckungen scannen kann. Wie synchron bewegen sich die Füße des Quarterbacks dabei? Hat er eine kompakte Wurfbewegung oder holt er überdurchschnittlich weit aus? Sind die erforderlichen körperlichen Merkmale vorhanden?
Wenn McCown gefällt, was er von einem physischen Standpunkt aus sieht, sucht er nach Konstanten in der Spielweise – vor allem dann, wenn Spieler einen langen Ball werfen.
Während der Bewertung von Bryce Young drehte sich vor dem Draft ein Großteil der Diskussion um dessen Football-Intelligenz.
McCown verglich den "Prozess", mit dem ein Quarterback die gegnerische Verteidigung scannt, mit dem des Lesens beim Gehen. Er erklärte, dass man in einem bestimmten Tempo gehen und in einem bestimmten Tempo lesen kann, aber wenn man beides gleichzeitig machen muss, kann das Tempo nachlassen.
"Wenn man von Natur aus ein schneller Läufer ist, kann man vielleicht das gleiche Tempo beibehalten. Oder wenn man ein wirklich kluger Mensch ist und gut im Multitasking, dann kann man vielleicht bei diesem Tempo ein Buch lesen", sagte McCown. "Das ist es, worauf es beim Quarterback-Spiel ankommt. Kannst du deine physischen Fähigkeiten und das Talent, was wir in dir sehen, beibehalten, je mehr wir dich mental belasten? Kannst du das Level halten, auch wenn der Druck der Verteidigung stärker wird? Manche Jungs können es, manche nicht."
McCown machte sich auch Notizen, wenn ein Spielzug nicht klappte, um zu beurteilen, wie der Quarterback damit umging. Bei Young gefiel ihm, wie der Alabama-Quarterback die Verteidigung analysierte, um den passenden Receiver zu finden. Er zeigte ein sehr gutes Spielverständnis, las die Deckung des Gegners zügig und hat einen passenden Spielzug parat.
McCown fiel auf, dass Young an der Line of Scrimmage stets eine Reihe von Spielzügen parat zu haben schien, wenn er die Verteidigung analysierte und diverse Checks durchführte – ohne dabei zum Trainer an der Seitenlinie zu schauen. Bei anderen Quarterbacks sah McCown immer wieder, wie diese ihren Kopf zur Seitenlinie drehten, um sich beim Trainer Feedback einzuholen und den Spielzug gegebenenfalls anzupassen.
Youngs Gelassenheit an der Line of Scrimmage und seine Kontrolle über die Offensive waren für McCown bemerkenswert.
"Das ist selten", sagte McCown. "Ich habe zwar keine Statistiken dazu, weil ich es mir beim Scouting nicht notiert habe, wenn Spieler den Blickkontakt zur Seitenlinie gesucht haben. Ich hatte das Gefühl, dass seine Trainer ihm vor dem Snap mehr Freiheiten gegeben haben, und er das einfach so gemeistert hat."
In Alabama wurde Young vom damaligen Offensive Coordinator und Quarterback Coach Bill O'Brien trainiert, der von 2014 bis 2020 Head Coach der Houston Texans war und jetzt Offensive Coordinator der New England Patriots ist. Unter ihm hat Young in einer sogenannten Pro-Style-Offensive sehr gute Leistungen gezeigt. In dieser Offensive wurde von ihm verlangt, das gesamte Feld zu analysieren. Eine Aufgabe, die ihn auf die Spielweise in der NFL bestens vorbereitet haben dürfte.
"Das sind die Dinge, die dich begeistern", sagte McCown. "Seine Spielverständnis, seine Würfe, die Genauigkeit und dieses körperliche Talent, das er mitbringt. Die Art, wie er seinen Mitspielern die Bäller zuwirft. Seine vorausschauende Spielweise, ob ein Receiver frei ist oder nicht … Er vertraut seinen Mitspielern, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Das ist also wirklich gut."
In seiner zweiten College-Saison knackte Bryce Young Alabamas Rekorde für Passing Yards (4.872) und Touchdowns (47). Daraufhin wurde er mit der höchsten Auszeichnung im College-Football, der Heisman Trophy, gewürdigt. Er ist der einzige Quarterback in der Geschichte Alabamas, der in zwei Spielzeiten mehr als 3.000 Yards geworfen hat. Seine 8.356 Passing Yards und 80 Touchdowns sind die zweitmeisten in der Geschichte der Crimson Tide überhaupt.
McCown hat bei der Evaluierung der Quarterback-Talente auch die Stärke der gegnerischen Verteidigungen mit einbezogen. Mit Alabama hat Bryce Young beispielsweise in der SEC (Southeastern Conference) gespielt, der vermeintlich besten Liga im College-Football, deren Teams schon viele Top-Talente für die NFL ausgebildet haben.
"Ich denke, es ist ein entscheidender Faktor, welcher Verteidigung man gegenübersteht", sagte McCown. "Es lohnt sich, das zu berücksichtigen."
McCown war auch von Youngs Pocket-Präsenz beeindruckt – also von seinen Bewegungsabläufen im taschenförmigen Bereich direkt hinter der Offensive Line. McCown gefiel es, wie Young den Football mit beiden Händen festhielt. Eine Schlüsseleigenschaft, auf die Coaches bei der Talent-Bewertung aller Quarterbacks besonders achten.
"Wie er sich in der Pocket bewegt und seine Grundlagenarbeit …", sagte McCown. "Er macht einen sehr guten Job, wenn es darum geht, den Ball mit beiden Händen zu schützen. Das sind kleine Dinge, an denen man arbeiten kann."
"Ich mag die Disziplin, die er an den Tag legt, wenn er bei einem Spielzug die Reißleine zieht, sich den Ball nimmt und abtaucht, um kein größeres Risiko zu gehen", sagte McCown. "Ich denke, das ist etwas, woran man mit ihm arbeiten muss. Die Saison in der NFL ist länger (und kräftezehrender) als im College Football. Die gegnerischen Verteidiger sind größer, stärker und schneller."
Bei der Beurteilung von Quarterbacks achtet McCown vor allem auf die positiven Seiten der Spielmacher, die er in der NFL am besten weiterentwickeln kann.
"Ich sehe seine guten Fähigkeiten. Und ich denke, wir müssen auch an uns Trainer glauben, dass wir in der Lage sind, das Beste aus ihm herauszuholen", sagte McCown.
Als Young zum ersten Mal den Trainingsplatz der Panthers im Rookie Minicamp betrat, hatten er und McCown bislang weniger als eine Woche gemeinsam auf einem Feld trainiert.
Aber der Trainer-Neuling und langjährige NFL-Quarterback weiß, was er von seinem Rookie-Spielmacher erwarten kann. Weil er ihn während des gesamten Pre-Draft-Prozesses verfolgt und bewertet hat. Jetzt ist es an der Zeit, Young dabei zu helfen, sich zu verbessern und an den Details zu arbeiten, auf denen er eine starke NFL-Karriere aufbauen möchte.
McCown wird sich auf seine frühe Analyse stützen, um Young zu helfen, sein Ziel zu erreichen.
"Zusammenfassend fragt man sich bei der Bewertung immer: Wie spielen die Spieler in ihrem besten Moment?", so McCown. "Wie gut glaube ich, kann ein Spieler sein? Und wie beständig kann er in der NFL sein? Ich denke, das ist es, wonach man sucht."
View photos of Alabama quarterback Bryce Young, drafted by Carolina first overall in the first round of the 2023 Draft.